➡︎ 88 km, ⬆︎ 1.910 m, ⬇︎ 260 m
Die Passer rauschte, die Nacht war fein – so soll’s sein. Es ist morgens schon ziemlich schwül-warm, das ist typisch für das windgeschützte Etschtal, das hier (auch wenn durch den Vinschgau bereits die Etsch fließt) anfängt.
Henriette sieht ein wenig morkelig nach der gestrigen Wasserdurchquerung aus, da in ihrem feuchten Zustand Sand und allerhand Gedöhns an ihr hängen geblieben ist. Ich frage mich manchmal, ob sie sich nicht auch irgendwie Keime einfangen kann, so pattig wie sie oft ist. Aber ich liebe es, wenn sie aussieht wie nach Schlammcatchen – dann fühle ich mich nicht so allein mit meinem Äußeren.
Nach der Erfrischung in der Passer und Frühstück geht’s wieder durchs Wasser und den staubigen Morkel-Sand, durch Büsche, hoch zum Weg. Henriettes Felgen und meine Hobbitfüße andeutungsweise putzen – und ab geht es runter nach Meran. Heute fahre ich nur durch die Stadt durch und halten nicht noch mal.
Vorbei an Palmen, mondäner Architektur im mediterranen Stil geht es nun an die Etsch, deren Verlauf ich nun einige Kilometer flussabwärts an Burgen und Apfelplantagen entlangfahre. Es ist aufgrund des feuchtwarmen Klimas diesig und die Silhouetten der Berge sind nicht scharf zu sehen.
Nach ungefähr zwanzig entspannten Kilometern und dumpfem Treten kann man langsam ins Eisacktal schauen. Hier liegt Bozen – und je näher ich komme, umso mehr zeichnen sich im Hintergrund die zerklüfteten Berge des Rosengartens in den Dolomiten ab.
Wie in Passau fließen auch in Bozen drei Flüsse zusammen: die Etsch als Hauptfluss, die Eisack und die Talfer, an deren Ufer das eindrucksvolle Museion liegt. Ein spannendes Ensemble mit den zwei geschwungenen Fuß-/Radwegbrücken, die einen fast zwangsläufig in den trichterförmigen Glasbau des Museums für moderne und zeitgenössische Kunst leiten und ziehen. Beeindruckend, was Architekten hier umgesetzt haben: welche unterbewussten Mechanismen und Gefühle im Betrachter ausgelöst werden, wie subtil gute Architektur funktioniert, die man nicht immer hinterfragen muss, sondern einfach aufnehmen und genießen kann.
Die Wärme lässt meinen Blick und meine geistige Fitness etwas vernebeln, und so fahre ich bewusst, unbewusst etwas ziellos durch die Altstadt. Henriette und ich sind vor zwei Jahren schon mal hier gewesen, da war es genauso drückend. Ich lasse mich treiben und will mich nicht stressen – nicht bei diesen Temperaturen. Mal gucken, wo ich und meine Augen hängen bleiben. Auf alle Fälle will ich Pizza, Salat und ein großes kühles Weizen. Aber alkoholfrei – sonst kippe ich wirklich um oder sabbere, weil meine kognitiven Fähigkeiten auf Null gesetzt werden würden.
So lange ich mich mit Henriette bewege, ist alles halbwegs trocken. Mit dem Wechsel auf den Klappstuhl eines ziemlich urigen Restaurants in der Altstadt änderte es sich aber schlagartig. Ich bin kurz davor, die Bedienung zu fragen, ob sie nicht Lust auf eine Runde Bandage hätte – nicht weil ich das im Moment anregend fände. Es wäre ein reiner Sicherheitsaspekt, einfach mal ordentlich am Stuhl festzurren lassen, um nicht mit dem akut einsetzenden Schweißfluss davonzuschwimmen.
Alles babbt, der Tisch viel zu klein für Klamotten, Sonnenbrille, Lesebrille, Helm, Kopftuch, Handy, Kabel und Powerbanks. Dazu Kaffee, Weizen, Salat, Pizza – und ich, als Bewegungslegastheniker, der versucht, Essen und Trinken irgendwie in die richtige Öffnung zu manövrieren. Entspannt essen ist anders – aber das Ambiente war schön.
Ich eiere mit Henriette durch die Stadt, und da ich eh schon überall klebe, gönne ich mir spontan an einem Eisverkauf das erste italienische Eis der Tour. Bei der Hitze läuft es schneller über den Handrücken, als man „Gelato“ sagen kann. Wirklich Hunger habe ich nicht, aber Kalorien müssen sein.
Vor dem Laden sprechen mich zwei sehr junge Mädels aus Deutschland an, die nach einer Hauptstraße fragen – sie wollen von dort nach München trampen. Ich muss grinsen: Ich sehe weder aus wie ein Bozener noch wie jemand, der sich mit italienischen Autostraßen auskennt. Also zücken wir Google Maps. Sie erzählen aufgeregt von ihren zwei Tagen in Bozen und ihrem Plan, nun zurückzutrampen. Ein bisschen überdreht – aber hey, jung, frei, voller Energie. Ich will ihnen noch sagen, dass sie vorsichtig sein sollen, bei wem sie mitfahren, spare mir aber die Vaterfigur. Stattdessen wünsche ich ihnen einfach eine gute, sichere Fahrt und winke lächelnd hinterher.
Ich freue mich, dass es gleich links ins Eisacktal geht, und ich meine mich zu erinnern, dass es hier etwas kühler wird – durch Schatten und Fluss. Vor zwei Jahren bin ich mit Henriette hier schon mal lang, nur andersrum. Nein ich bin nicht rückwärts gefahren.
Das Eisacktal, schon bissel schräg, wie die Menschen dieses Tal zu einer Transitstrecke ausgebaut haben, mit Brennerautobahn, Staatsstraße und Brennerbahntrasse, die mich auf den nächsten 20 Kilometern auf der alten, stillgelegten Bahntrasse begleiten. Auf der einen Seite freue ich mich, dass ich gleich Richtung Osten abbiege und es verkehrstechnisch ländlicher/natürlicher wird – weiß aber, dass es dann für heute nur noch aufwärts geht.
Nach insgesamt 60 Kilometern Talfahrt geht es in Waidbruck rechts rein durch einen Straßentunnel, über dem die Burg Trostburg thront, hinein ins nun ansteigende Grödnertal. Die nächsten Orte sind dann schon in den Dolomiten: St. Ulrich, St. Christina und dann Wolkenstein.
Ich bin gespannt – ich war noch nie in den Dolomiten – und innerlich höre ich die vielen Aussagen von Bekannten: „Das ist noch mal was ganz anderes, etwas Besonderes.“
Auch architektonisch hat sich seit Bozen bis Wolkenstein etwas geändert. Erst dachte ich, die Fassaden der typischen Bauernhäuser würden noch saniert, weil es drumherum so gerüstartig aussah. Aber nein – das gehört so. Und je länger ich unterwegs war, desto mehr realisierte ich, dass es typisch für die Region ist. Hier gibt es nicht die klassischen Balkone mit Blumenschmuck, sondern umlaufende Holzvorbauten, die mit Brettern verschalt sind – Schrotbau nennt man das wohl.
Dazu überall Devotionalienläden – offenbar typisch für die Region. Ich beschließe mal, keine Madonna oder Kruzifix zu kaufen. Dem Handwerk scheint es jedenfalls gut zu gehen: Die Läden präsentieren sich teils in verblüffend moderner Architektur.
Nun bin ich mitten in den Dolomiten – und im Kaloriendefizit. Trotz mächtiger Pizza, opulentem Frühstück, vielen Äpfeln und zwei Tüten Nüssen. Der Anstieg war und ist ordentlicher als gedacht. Im nächsten Ort brauche ich einen Supermarkt und eine gute Eiweißpause.
St. Ulrich, am Anfang der Dolomiten: ein megaschöner Ort. Viele Touristen – und auffällig: viele muslimisch geprägte Menschen, die den Anschein machen, finanziell gefestigt zu sein. Es scheint generell ein beliebtes Ziel für Gutbetuchte zu sein – dementsprechend sind die Preise pfeffrig bis eher chili-scharf. Selbst im Supermarkt fragte ich prüfend, ob es sich wirklich noch um Euro handelt.
Aber was will man machen – man zahlt eben auch für die Gegend. Und es ist herrlich, auf einer Wiese zu sitzen, seinen selbstgemachten Kaffee zu trinken, Joghurt, Kohlenhydrate und anderes zu mampfen, in diesem beeindruckenden Panorama: Wald und Wiesen im satten Grün, dazu die hellen Felsen der Dolomiten (UNESCO-Weltnaturerbe), die in der Sonne regelrecht leuchten. Faszinierend – das hätte ich so nicht erwartet. Es wirkt wie ein überdimensionaler Skulpturenpark.
Am frühen Abend wird es angenehmer zu radeln, kühler. Die Menschen sitzen in den Orten in Bars und Restaurants und genießen den Abend. Für mich geht es aber wieder hoch – vielleicht schaffe ich es heute noch zum Sellajoch.
In Wolkenstein (1.563 m) ist es schon dunkel. Manchmal bemerke ich, wie ich das abendliche „Who is Who“-Flanieren der Menschen kurz unterbreche. Sie schauen mich an und hinterher: Was macht der denn? Ist der auf der Flucht? Zieht er mit seinem Ausstand nachts um? Und warum fährt der abends noch hoch – da kommt doch lange kein Hotel mehr?
Hier riecht man förmlich das Geld. Manchmal denke ich fast, die Leute tragen kleine Lichter an ihren Kleidungen, die reflektieren wie Fernlichter. Tatsächlich ist es mein Frontlicht, das am Schmuck der Menschen glitzert. Ich könnte mir hier wahrscheinlich nicht mal Schnürsenkel kaufen, ohne zu weinen. (Und ja, ich habe es jetzt etwas übertrieben ).
Es geht in die Nacht nach oben – die Dolomitenfelsen stehen schweigend und erhaben in den Sternenhimmel. Beruhigend, ein so kleiner, unbedeutender Fitzel auf dieser Welt sein zu dürfen.
Hin und wieder blitzen immer weiter und tiefer die Lichter Wolkensteins zwischen Bergen und Bäumen hervor. Nur ein Hauch unterhalb des Sellajochs – kein Kilometer mehr – schaue ich nach einem Platz. Am Joch oben, so weiß ich von Fotos, ist es ziemlich karg und dadurch eher schwierig einen geschützten Platz zu finden.
Aber hier passt alles. Was für ein Schlafzimmer: eine Art Hochweide auf 2.020 Metern mit einer entspannten Anhöhe und Bäumen, zwischen die ich mich hänge – eingerahmt von den Felsen. Die Silhouetten der Bäume und Berge wirken fast wie ein Passepartout für den Sternenhimmel.


































