➡︎ 86,1 km, ⬆︎ 780 m, ⬇︎ 340 m
Guten Morgen aus Zirl am Inn. Auf dieser Kieselsteinbank, am Zufluss des Schloßbaches in den Inn, hat das Schlafen erstaunlich gut funktioniert. Da es hier keine Tiere gab – weder groß noch klein – brauchte ich kein Zelt, keinen Insektenschutz und keine Hängematte, nur die Isomatte und den Schlafsack. Der war in der Nacht zwar ziemlich klamm, aber das kam von der Luftfeuchtigkeit. Kurz dachte ich im nächtlichen Halbschlaf: ‚Oh je, eingepullert aus lauter Angst – oder das Einsetzen der Wechseljahre mit erhöhter Schweißproduktion?‘ (Scherz – ich hab geschlafen wie ein Stein). Dass der Schlafsack klamm wird, ist an Gewässern in der Nacht für mich bekannt, und wenn das Wetter am nächsten Morgen fein ist, trocknet er bei meiner späten Aufstehzeit von allein durch die Sonnenstrahlen noch vor dem ersten Aufblitzen.
Da meine Bettungslage ziemlich exponiert direkt am Fluss war, hatte ich eher die Sorge, dass ich wegen mangelnder Aufwachreaktion und der aufgehenden Morgensonne als gut durchgegartes Grillhähnchen aufwache. Dazu kam es nicht – geweckt wurde ich vorher von einer Gassigängerin mit einem großen Rassehund, die direkt an mir vorbeilief. Auf die leisesten menschlichen Geräusche reagiere ich sofort, da ich an solchen Plätzen, wo doch hin und wieder Menschen vorbeikommen können, instinktiv etwas wachsamer schlafe – quasi nur mit einer Gehirnhälfte (gut, mehr habe ich auch nicht), als Balance zwischen Erholung und Sicherheit, so wie eine Mutter mit ihrem Kind. Vor Tieren und Gedöns sorge ich mich weniger als vor Menschen, die sich ggf. denken könnten: spannend, was hat er denn alles so mit.
Also erwache ich mit dem Blick auf Frau und Hund und sage erstmal freundlich ‚Guten Morgen‘ – Freundlichkeit besticht, und bloß kein Fragekarussell bei ihr auslösen. Ich hoffe, sie hat nicht gedacht, ich sei ein Penner… wobei: ich habe ja tatsächlich gepennt. Die Dame hat etwas irritiert, aber lachend zurückgegrüßt.
Erstmal frisch machen – ich bevorzugte das klare Wasser des Schloßbaches statt des doch sedimentreicheren Inns, der sicher ein gutes Peeling abgegeben hätte. Nach Handtuch- und Sonnentrocknung gleich mit Sonnencreme den Körper bestreichen. So stehe ich also, so wie Gott mich geschaffen hat – beziehungsweise was das Leben davon übriggelassen hat – in meiner vollen Pracht auf dem Kieselbett, und neben mir… ‚Uupsi‘, auf einmal eine andere Frau ebenfalls mit Hund. Lustig, sie war wie versteinert und hat so getan, als hätte sie mich nicht gesehen.
Mit den Jahren verändert sich bei mir das Schamgefühl, mich juckt es gar nicht mehr. Die Frau wird mich wahrscheinlich nie wieder sehen – oder irgendwann einen Artikel oder eine Beschwerde über meine Nacktheit schreiben. Ich sorge mich nur um ihre psychische Unversehrtheit und hoffe, es brennen sich keine zu heftigen Erinnerungen in ihr Gedächtnis.
Für die unter euch, die jetzt glauben: ‚Es gibt wahrscheinlich schlimmere Anblicke…‘ möchte ich sagen: wahrscheinlich. Aber glaubt mir, es ist nicht alles so, wie es von außen scheint. Ich habe mal 40 Kilo mehr gewogen und würde ich meine unterstützende Presswurst-Kleidung und meine den Krampfadern geschuldeten Thrombose-Strümpfe, die bis zu den Pobacken gehen, nicht tragen – so könnte ich glatt Frontmann bei den Zillertaler Schürzenjägern sein. Und die Pobacken würden bis zu den Kniekehlen fallen.
Um 11 Uhr, wenn ‚normale‘ Menschen schon ihre erste Pause gemacht haben, starten Henriette und ich gen Westen. Die abends im Wasser ‚gewaschenen‘ Radlersachen wehen hinten (auf dem Gepäckträger über den Taschen) und vorn (über dem Lenkergespannt) im Wind.
In Telfs hatte ich am Vorabend einen Fahrradladen ausfindig gemacht, in dem nach ein paar Tagen die Bremsen eingestellt werden sollten und, und, und. Henriette hat sich die ganze Nacht auf die befreiende Thai-Massage gefreut.
In Telfs angekommen stellten wir leider fest, dass der Bikepalast am Montag seinen Ruhetag zelebriert. Mist, dachte ich – ich benötige definitiv Bremsen und neue Schuhe. Zum Glück gab es unweit noch ein großes Sportgeschäft mit Fahrradabteilung. Ich hatte bei der Suche vorher immer nur nach Fahrradladen, -Geschäft oder -Werkstatt gesucht. Jetzt weiß ich: auch ‚Sportgeschäft‘ ist eine Option, und zwar mit wesentlich mehr Möglichkeiten.
Also ging es ins Sportgeschäft. Zwar hatte der Mechaniker Stephan bis 13 Uhr Mittagspause, sodass wir noch ca. 45 Minuten warten mussten. Aber immerhin konnte ich schon mal Schuhe aussuchen und Henriette für das Service-Separee freimachen. So stiefelte ich barfuß zwischen den Schuhen und Henriette hin und her und wunderte mich, dass noch zwei, drei Menschen den Laden betraten, ohne gleich blass zu werden.
Schuhe waren ausgesucht, Stephan kümmerte sich um das Wohlbefinden von Henriette und wir plauderten interessiert hin und her. Nun noch die Klickies von den alten Schuhen abbekommen und an die neuen dran. Kein einfaches Unterfangen. Beim nächsten Mal kaufe ich definitiv Standard-Klickies und Pedalen, damit ich nicht wieder diese Probleme habe wie in Telfs – oder schon vor zwei Jahren in Innsbruck. Denn mein Klemmsystem ist ein kleines Nischenprodukt und nicht überall einfach so zu haben.
Also musste ich die Klickies mit den abgerockten Schrauben von den Schuhen lösen – alles andere als einfach. Drei von vier Schrauben konnte ich selber lösen, bei der vierten klappte es nicht, und der Mechaniker traute sich, etwas arg übervorsichtig, auch nicht ran. Ich so: ‚Nimm doch nen Akkuschrauber und nen Metallbohrer, bohr die Schraube auf. Den Schuh schmeiße ich eh weg. Oder glaubst du, ich fahre den wie eine Trophäe über die Alpenpässe und halte ihn zur Anbetung in die Luft?‘ Stephan traute sich trotzdem nicht, also weiter zur nahen Autowerkstatt des ÖAMTC – quasi eine Art Chiropraktiker für Fahrradangelegenheiten.
Die zwei lustigen Gesellen dort – den einen mit hartem Tiroler Akzent verstand ich so gut wie nach einem Schlaganfall, der andere kam aus den neuen Bundesländern und meinte mit Augenzwinkern, er sei ‚aus Tirol‘, spreche aber nur zur Übersetzung so – waren superlieb, hatten aber auch Angst, die Schraube aufzubohren. Also haute ich sie an, ob sie mir nicht einfach den Akkuschrauber mit Bohrer geben und ich mache es selbst. Bumms, ratz, fatz – aus und fertig. Ich verstehe bis heute nicht diese Zurückhaltung und Angst davor, mal etwas grober zu werden. Ich meine: alle drei arbeiten in einer Werkstatt und nicht in einer Kunstgalerie.
Im Endeffekt hat alles geklappt: Meine alten Schuhe verpesten jetzt in zwei unterschiedlichen Mülleimern und an verschiedenen Orten die Luft, und ich konnte nach ca. drei Stunden Verzögerung (mit allem drum und dran) die Reise Richtung Westen mit neuen Schuhen und einer nun wieder schnurrenden Henriette fortsetzen.
Am Weg, an einem der vielen Trinkwasserspender, standen Jungs mit selbstgemachter Limonade, die sie lautstark anboten. Leider kein Bargeld dabei, und Kartenzahlung war nicht möglich. Voll sympathisch – und wie sie mir noch einen schönen Tag hinterherriefen. Einfach herrlich.
Weiter ging’s an Stift Stams und weiteren Burgen und Kirchen vorbei, die im Tal oder auf den Bergen thronten. Ein Blick ins Ötztal mit seinem Bergpanorama, durch frischen Nadelwald mit saftigem Grün, Farnen, Gräsern und Sträuchern. Zusammen mit den Temperaturen des Tages eine wunderbare, verwunschene Gegend – besonders da auch der türkise Inn hier natürlich fließen konnte.
Bei Roppen im Oberinntal, gegenüber von Löckpuit, mit Blick ins sich öffnende Ötztal: eine Lichtung mit Rastplatz wie aus dem Bilderbuch. Kieselstrand am wilden Inn, auf dem Wildwassertouristen in entspannten Abständen an mir vorbeiruderten, trieben oder schwammen. Etwas abseits: ein schönes öffentliches WC-Holzhaus im Wald, mit Veranda und innen sauber und geleckt. Davor ein Oasch (Trog) mit frischem Quellwasser und eine geschwungene Doppel-Holzliege. Ich und Henriette hingen hier einfach am Strand fest und machten eine ausgedehnte Genusspause.
Dann hatte ich die Zeit aus dem Blick verloren und mich vertan – ich wollte ja abends pünktlich bei meinen Freunden in Kauns zum Abendessen eintreffen. Also etwas hektischer über Arzl im Pitztal, Landeck, Fließ hinauf ins Kaunertal, aber nur ein Stück bis Kauns – das ich um Punkt 20 Uhr erreichte.
Gabi und Christian standen schon auf der Terrasse und feuerten mich an. Ich habe nicht damit gerechnet, so lokomotivenartig und schwitzend bei meinen Freunden einzutreffen – aber der Anstieg hatte es in sich. Ich frage mich immer, wie die Menschen damals auf die Idee kamen, an solchen Orten zu siedeln. Damals gab es keine E-Bikes und Autos – egal, wie wunderschön es hier ist.
Es folgte ein wirklich sehr schöner Abend, mit Gabi (meiner Brunchfreundin <- das ist vor über zwanzig Jahren mal in ausgelassenen Stunden entstanden) und Christian, auf der Dachterrasse mit Blick auf Burg Berneck und die Berge, die das Kaunertal einrahmen, mit der Weißseespitze (3.518 m). Ich hätte drinnen ein Gästezimmer beziehen können, aber auf der seitlich überdachten Dachterrasse gab es ein geniales Open-Air-Bett, das diese Nacht meines sein sollte. Einfach herrlich – ein laues Lüftchen in einer warmen Sommernacht.























